„Hurra, es klappt!“ Der Aufschrei hallt durchs Wildniscamp am Falkenstein. Die selbst gebaute Murmelbahn aus Rinde, Moos, Hölzchen und Stöckchen funktioniert, die Kugel rollt. Mit glücklichen Gesichtern erheben wir uns vom Waldboden, klopfen die Erde von Händen und Knien und betrachten zufrieden unser Werk.
Die Zuschauer der anderen Teams applaudieren. Es ist unsere Abschluss-Challenge nach drei intensiven Erfahrungstagen im Wildniscamp am Falkenstein im Bayerischen Wald – dort, wo sich Fuchs und Hase, wahlweise Luchs und Reh gute Nacht sagen.
Ich gebe zu, wir sind Wiederholungstäter und von einem „Wir kennen doch schon alles!“ selbst beim vierten Mal im Wildniscamp noch weit entfernt. Das liegt zum einen am Veranstalter, dem Verein Waldzeit e. V., der uns immer wieder bestens geschulte, megasympathische Wildnispädagogen an die Seite stellt, mit denen etwa eine Nachtwanderung ohne Hilfsmittel wie Taschenlampe o. Ä. zu einer spannenden und angstfreien Unternehmung wird – und bei der wir jede Menge lernen und immer wieder ins Staunen kommen. Zum Beispiel über die Leuchtkäfer, die uns wie auf einer Start- und Landebahn den Weg durch den nachtdunklen Wald weisen.
Wildniscamp am Falkenstein – Batterien aufladen ohne Steckdose
Zum anderen ist es die Umgebung des Wildniscamps selbst. Auf einer riesigen Wald- und Wiesenfläche stellt die Nationalparkverwaltung als Bildungseinrichtung seit 2002 die komplette Infrastruktur sowie sechzehn Themen- und Länderhütten für abenteuer- oder bildungshungrige Kinder und Erwachsene, Familien und Schulklassen ganzjährig zur Verfügung. Übernachtet wird an diesem langen Wochenende, das wir privat für eine Gruppe befreundeter Familien gebucht haben, im Baumhaus oder im Wiesenbett, in der Erdhöhle, im Waldzelt, dem Lichtstern oder der Wasserhütte. Die festen Hütten mit jeweils sechs bis acht Schlafplätzen – manche sind mit Öfen ausgestattet – liegen verteilt über das weite Areal, sind funktional eingerichtet und verfügen weder über Strom noch Wasser. Beides bekommt man im zentralen Haupthaus, das sich holzverschalt mit großen Glasflächen vor dem Speise- und Aufenthaltssaal und einer einladenden, umlaufenden Holzterrasse in weitem Schwung auf einer Geländeerhebung charmant in die Landschaft einpasst.
Wildnis beginnt vor der eigenen Haustür
Lisa und Jan, unsere Scouts bei den Streifzügen durch die Wildnis, lassen der Gruppe viel Raum zum Entdecken. Und stehen Rede und Antwort zu allen Fragen, die sich aus dem Hingucken, Anfassen, Hineindenken über kurz oder lang ergeben. Warum ist die Losung vom Hirsch so grün und riecht gar nicht? Warum sind Auwälder wichtig für den Hochwasserschutz? Wie entfache ich ein möglichst qualmfreies Holzfeuer? Zwischendurch diskutieren die Kinder eifrig, wie sich aus der Rehspur am Boden herauslesen lässt, ob das Tier schnell oder langsam unterwegs war, vorwärts oder vielleicht sogar rückwärts gelaufen ist. Und, oh wie schade, dass das Eichhörnchen schon wieder weg ist, das hier heute Morgen zum Frühstück die Samen aus den Zapfen herausgepult hat – unsere Naturdetektive haben das Szenario nach einigem Untersuchen und mit kleinen Hilfestellungen treffsicher aus den noch frischen Schalen auf dem sonnenbeschienenen Baumstumpf herausgelesen. Apropos Natur und Wildnis: Wo hört das eine auf und wo beginnt das andere? Dazu befrage ich gleich nach der Rückkehr von unserer ersten Exkursion Wildnis wagen! von Ulrike Fokken, das ich mir als Reiselektüre eingepackt habe. Für Fokken ist Natur gleich Wildnis, beginnt direkt vor der Haustüre und kann somit auch im Berliner Tiergarten erlebt werden. Bedeutet für mich: Sobald ich all die öden, mit Schotter, Kies oder Rindenmulch gepflasterten Vorgärten, die diesen Namen nicht verdienen, hinter mir lasse und den Weg zum See, in den Wald oder in die Industriebrache einschlage, beginnt Wildnis. Zwar in der Light-Version, aber immerhin. Natürlich ist auch der Bayerische Wald nicht die nordspanische Sierra de la Culebra, eine der am dünnsten besiedelten Gegenden Europas, aus der der Wolf nie vertrieben wurde. Aber neben Luchs, Fuchs und Dachs scheint dieser auch im Bayerischen Wald langsam wieder heimisch zu werden. Seit einigen Jahren schon mehren sich Meldungen zu Wolfsichtungen und -spuren, erzählt uns Lisa. Eine Entwicklung, die innerhalb des Nationalparkkonzepts sehr begrüßt wird, ist dies doch ein Hinweis auf die Wiederherstellung der ehemals funktionierenden Abläufe in einer sich selbst überlassenen Natur.
Knock-out für den präfrontalen Kortex – das Gehirn schaltet hier auf Entspannung
Spannend und geradezu mystisch ist unser Ausflug in die Kernzone des 24.250 Hektar großen Waldgebiets des Nationalparks, das auf der angrenzenden tschechischen Seite in den Böhmerwald, die Šumava, übergeht. Wir starten direkt im Wildniscamp am Falkenstein und wissen schon jetzt, dass auch diese Tagestour bei keinem der 15 Kinder und Jugendlichen unserer 28-köpfigen Gruppe am Abend als Wanderung (= laaaangweilig!) bezeichnet werden wird. Während sich kleine Hosentaschen mit glitzernden Kalkspat- und Granitschiefer-„Diamanten“ füllen, erfahren die großen Zuhörer, dass reiche Quarzvorkommen einst zum Wohlstand der gesamten Region durch die berühmten Glashütten beigetragen haben, da die Bodenschätze für die Glaserstellung hier quasi direkt vor den Füßen lagen. Der Wald wiederum lieferte seit dem Mittelalter ausreichend Holz für u. a. die Befeuerung der Brennöfen. Der Switch von der intensiv betriebenen Forstwirtschaft zurück zur Wildnis erfolgte dann am 7. Oktober 1970 mit der Gründung des ersten Nationalparks in Deutschland. Davon profitieren wir heute mit allen Sinnen: Wir nehmen zwitschernde Vögel und hämmernde Buntspechte wahr, steigen über knarzende Baumriesen, lauschen dem Plätschern des Baches und dem Rauschen der Blätter. Streichen über moosbewachsene Felsen, füllen unsere Nasen mit dem intensiven Duft des Zunderschwamms, stibitzen hier und da ein wenig Sauerklee und genießen seinen zitronigen Geschmack. Später bewundern wir eine phänomenale Biberburg und lassen uns erklären, wie das aus Tschechien einwandernde und hier gern gesehene Nagetier ganz fleißig zur natürlichen Ordnung beiträgt – gerne aber auch mal alle fünfe gerade und das Staudamm-bauen sein lässt, wenn die Sonne scheint und man sich und der lieben Großfamilie von den Strahlen den Pelz wärmen lassen kann.
Ich schenk dir einen Baum!
Wie wenig Zivilisationsschnickschnack wir eigentlich brauchen, wissen wir alle. Dass man aber für satte vier Tage auf sein Handy verzichten kann, das erstaunt besonders unsere jugendlichen Wildniscamper. Und so geht es am dritten Tag bei strahlendem Sonnenschein und in bester T-Shirt-Laune, später kräftezehrend im knietiefen, angetauten Schnee (30. April 2017!) hinauf auf den Falkenstein, während die andere Gruppe zur ebenfalls angebotenen, aber weniger die Kondition fordernden Flusswanderung entlang der murmelnden Deffernik aufbricht. Am Abend wird am Stockbrot-Lagerfeuer erzählt und verglichen: Wer war länger, weiter unterwegs, wer hat das Spannendste erlebt? Wenn später dann müde und zufriedene Kleine und entspannte Große zur gleichen Zeit in ihre Schlafsäcke kriechen, ist auch für mich eine Art natürliche Ordnung wiederhergestellt.
PS: Das Spiel Ich schenk dir einen Baum! war unser absoluter Favorit. Dazu braucht es nur ein bisschen Wald mit ein paar Bäumen. Einen Schal um die Augen binden, vom „sehenden“ Partner an die Hand nehmen und durch den Wald führen lassen. Irgendwo hält der Partner an, „schenkt“ dir deinen Baum, den du fühlst, abtastest und dir die Struktur, Form etc. merkst. Dann wirst du mit immer noch verbundenen Augen wieder auf dem gleichen oder auch auf einem anderen Weg zurückgeführt. Nimm jetzt die Augenbinde ab und geh „deinen“ Baum suchen.
Zum Schluss noch einige Tipps für einen Trip in die Wildnis des Bayerischen Waldes:
- Das Wildniscamp am Falkenstein (Zwieslerwaldhaus 2B, 94227 Lindberg) findest du hier.
- Der Veranstalter, über den ein Aufenthalt gebucht werden kann, heißt Waldzeit e. V.. Hier bekommst du alle Infos zu Programm und freien Terminen, Anfahrtsbeschreibungen per Bahn, Bus und Auto sowie eine detaillierte Packliste für deinen Aufenthalt im Wildniscamp.
- Von Ulrike Fokken stammt das Buch Wildnis wagen! Warum Natur glücklich macht (Verlag Ludwig, ISBN 978-3453280625), das mir ausreichend Lesewissen zum Thema bot. Erfahrungswissen sammelst du aber am besten direkt vor Ort!
Reisetipps Deutschland:
Bilder und Kurzreportage: Katharina Zeutschner
Die Wildnis liegt gleich um die Ecke im Bayerischen Wald: ein Wochenende für kleine und große Abenteurer im Wildniscamp am Falkenstein inmitten des ältesten Nationalparks in Deutschland